Michael Lassel: Surreale Momente wahrnehmen

„Sieh, da unten, die Leute, die sind unglücklich, weil sie nicht malen können.“ Das sagte einmal Professor Baba, im Unterricht aus dem Fenster auf die Straße blickend, zum Kunststudenten Michael Lassel. Der große realistische Maler Corneliu Baba (1906-1997) lehrte damals an der Kunstakademie in Bukarest. Als er jene Begebenheit schildert, steht der Kunstmaler Michael Lassel an einem Fenster des Südflügels der Würzburger Residenz.

Ehrfurcht und Dankbarkeit schwingen in seinen Worten mit. Baba war groß, hager und er stotterte.– In der 1981 von der UNESCO als Welterbe anerkannten Residenz wurden von Mitte Mai bis Anfang September sechzehn Lassel-Bilder unter dem Titel „Sicht der Dinge“ präsentiert. Beispiele von Lassels Kunst der Trompe-l’œil-Malerei sind in diesem Jahr noch andernorts zu bestaunen (siehe Übersicht weiter unten). Am 19. Dezember begeht der gebürtige Ludwigsdorfer sein 60. Wiegenfest.

Im Gästebuch findet sich der folgende Eintrag zur Ausstellung:„Diese Malerei ist ein unübertroffener, herrlich anzuschauender Wahnsinn!“ Wahnsinn? – Technische Meisterschaft und Fantasie ergänzen einander „wahlverwandtschaftlich“ in Lassels Bildern, in einer beunruhigend natürlichen Manier. In Anlehnung an das obige Zitat mag man mit Fug und Recht bemerken, dass die in Öl auf die Leinwand gebrachten Gegenstände irrsinnig wirklichkeitsgetreu wirken. Michael Lassel: Der Dom II, Öl auf Leinwand, 110 x 100 cm, 2007-2008.Gemäß Definition ist das „Trompe-l’œil“ (französisch: „Augentäuschung“) eine spezifische Art des Stilllebens, bei der die Gegenstände so naturgetreu gemalt sind, dass sie dem Betrachter im ersten Augenblick als real erscheinen. Lassel nennt seine Kunst „Trompe-l’œil-réalité“. Seine Hochblüte erlangt das Trompe-l’œil in der niederländischen Stilllebenmalerei des 17. Jahrhunderts. In der Gegenwartskunst führen Vertreter dieses Genres, quasi als Epigonen, ein Nischendasein, das, sofern sie es wie Lassel zur Perfektion gebracht haben, hohe Wertschätzung erfahren kann. Lassels Ölbilder erzielen auf dem Kunstmarkt Preise im hohen fünfstelligen Bereich. Seine „Vision oder Wirklichkeit“ wurde 1991 für 120 000 Mark nach Frankreich verkauft, wovon der Künstler nur anteilmäßig profitierte: ein Achtel, sprich 15 000 DM, erhielt der Maler, den „Restbetrag“ sein Pariser Galerist. So ist es nicht verwunderlich, dass sich Lassel vor geraumer Zeit für die Selbstvermarktung entschieden hat. Dabei kann ihn seine aus Sächsisch-Regen stammende Ehefrau Enikö Tünde fachkundig unterstützen: Die Kunstmanagerin arbeitet als Galeristin in Nürnberg.

Alter Meister des Unwirklichen

Wir stehen nach wie vor im Südflügel der Würzburger Residenz, in der Grafischen Sammlung. Vis-à-vis der eigenen Werke äußert sich der Künstler zu seiner Arbeit. Lassel ist bestrebt und versteht es, seine Kunst möglichst anschaulich zu vermitteln. Immerhin hat er Wissensvermittlung früher einmal professionell praktiziert, als Kunstlehrer an der Bergschule in Schäßburg. Seine Ausführungen sind nicht ohne Ironie und Witz. Der Mann hat Humor. Nun aber Augen auf! Die in penibler Feinarbeit realisierten Stillleben bergen Fantastisches. Michael Lassel in der Würzburger Residenz. Foto: Christian SchogerEin antikes Bauwerk aus kunstvoll aufgeschichteten und -getürmten antiquarischen Bänden; ein mächtiger Dom, der sich – quasi als Klangkörper – aus Instrumenten zusammenfügt. Die Detailfülle ist schwer zu fassen. An manchen Stellen hat der Maler seine Utensilien verewigt: Farben, Pinsel, Zirkel, Lot. Doch der Zirkel bewegt sich wie von Geisterhand. Die volle Farbtube könnte jeden Augenblick verwendet werden. Das Kartenhaus ist permanent einsturzgefährdet. Du greifst nach den Spielkarten und begreifst: raffinierte Augentäuschung. Gottlob kein wahnhaftes Erleben. Derart gefoppt, fragt mag sich: „Wie hat er das nur angestellt?“

Die akribisch ausbalancierten Bildkompositionen lassen einen reichen Fundus an Requisiten vermuten. Tatsächlich wohnt dem Objektkünstler beachtliche Sammelleidenschaft inne. Lassel pflegt Flohmärkte zu durchstreifen auf der Materialsuche. Aberhunderte Gegenstände lagern im Keller, um zum gegebenen Zeitpunkt ausgewählt zu werden (objet trouvé). Inspiration findet der polyglotte Künstler insbesondere auch in der Literatur und (existentialistischen) Philosophie. Er wertschätzt aber auch die in Siebenbürgen erworbene Bildung als „umsonst und zugleich sehr teuer“. Lassel hat erst das deutsche Internat in Sächsisch-Regen, dann das musische Gymnasium in Neumarkt/Târgu Mures besucht.

An einem Bild arbeitet der Kunstmaler zwischen sechs und zwölf Monaten. In seinem im Fürther Stadtteil Stadeln gelegenen, 16 Quadratmeter großen Atelierraum skizziert und zeichnet er, reibt Pigmentfarben, untermalt mit Eitempera oder Acryl. Erst trägt er eine trockene Schicht auf die Leinwand auf. Es folgen immer fettere Pigmentfarben. Nach Monaten dann die letzte Schicht aus den transparent wirkenden Lasurfarben. Lassel malt immer bei Tageslicht.

Was die kunstgeschichtliche Tradition seiner Malerei anbelangt, so wandelt Lassel auf den Pfaden alter Meister. Bis zu einem gewissen Grad. Seine Arbeiten sind deutlich surrealistisch geprägt. Die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Literatur und bildenden Kunst wirkmächtige Strömung des Surrealismus suchte die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Unwirklichen, dem Unterbewussten, schöpfte aus dem Traum als Reservoir des Unbewussten. Paris war das Epizentrum des Surrealismus. Hier hatte André Breton 1924 seine „Surrealistischen Manifeste“ veröffentlicht. In der französischen Kapitale kommt Lassel Ende der 80er Jahre mit der Gruppe „Trompe-l’œil/Réalite“ um Pierre Gilou in Berührung. Dieser Kontakt löst in ihm, der bis dahin abstrakt gemalt hatte, stilistisch wie inhaltlich eine Neuorientierung aus. In diesen Jahren zieht es ihn in zyklischer Wiederkehr nach Paris – seit der Aussiedlung (1986) lebt die dreiköpfige Familie (der Sohn wird Maschinenbauingenieur) in Fürth. Sukzessive entwickelt sich seine künstlerische Handschrift. Heute gilt Michael Lassel auch im Ausland als einer der renommiertesten deutschen Vertreter dieser Stilrichtung. Das Fachmagazin „Weltkunst“ feierte ihn im Juni 2003 als „den wohl bedeutendsten Trompe-l’œil-Maler unserer Zeit“. Lassel erhielt eine Reihe von Kunstpreisen – ihm persönlich am wichtigsten ist der 1. Preis der Europäischen Kunstakademie Luxemburg (1991). Lang ist die Liste der Einzelausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen. Wiederholte Male stellte er in Pariser Salons aus, so auch im Herbstsalon im „Grand Palais“. Acht Jahre ist es her, dass eben in Paris sein „AEON“ noch vor der Saloneröffnung gestohlen wurde. Lassel erfuhr es vor Ort, frisch aus den Nachrichten im französischen Fernsehen. – Bittere Prominenz.

„Kultureller Botschafter Frankens“

Vergangenes Jahr strahlte der Fernseh-Bildungskanal BR-alpha einen Beitrag über den Kunstmaler aus. In der Anmoderation wurde der Familienname französisch ausgesprochen (phonetisch lasel). In dem kurzen Porträt schmückte man ihn dann mit dem inoffiziellen Titel „kultureller Botschafter Frankens“. Dabei ist Michael Lassel am 19. Dezember 1948 im nordsiebenbürgischen Ludwigsdorf zur Welt gekommen. Dass er womöglich Künstlergene geerbt haben könnte, schließt er weitgehend aus. Ja, doch, ein Bruder seines Großvaters, den es in die Vereinigten Staaten verschlagen hat, soll ein guter Tiermaler gewesen sein. Lassels Vater war in Siebenbürgen Schuster. So kommt es wohl nicht von ungefähr, dass sein demnächst nach London wechselnder„Turm zu Babel“ aus Schuhen konstruiert ist. In seinen Stillleben sind Spuren von Leben, also auch von Vergänglichkeit (oder Materialmüdigkeit): die Ahnen, ein der Ludwigsdorfer Kirche„entlehntes“ Rundfenster, konsequent in einen sonderlichen Kontext integriert. Wer kennt nicht das Befremden nach absurdem Traum? Dass sein 2001 entstandenes Bild „Turm zu Babel“ ab November (bis März nächsten Jahres) im British Museum ausgestellt wird, wertet Lassel als„Krönung meines Geburtstages“. Sein künstlerisches Schaffen geht indes weiter. Bei Ausstellungen erhält der Maler gewöhnlich ein oder zwei neue Aufträge. So ist es auch in Würzburg geschehen. Für Michael Lassel bedeutet das im Geiste seines Lehrmeisters Corneliu Baba: „Ich bin glücklich, weil ich malen kann.“

Christian Schoger
Siebenbürgische Zeitung 22.09.2008