Eine Welt jenseits der Realität

Michael Lassel führt seine Szenerien bis ins kleinste Detail mit bewundernswerter Akkuratesse aus – zu studieren bei ArtAffair in Regensburg:

Regensburg. „Der wohl bedeutendste Trompe l’oeil-Maler unserer Zeit“, schreibt „Weltkunst“, die Zeitschrift für Kunst und Antiquitäten. Das klingt wie in Stein gemeißelt. „Was ist Trompe l’oeil?“ ruft bei der Michael-Lassel-Vernissage in der Galerie ArtAffair jemand ungeniert dazwischen, der mit dem Begriff offenbar nichts anzufangen weiß. Und Lassel antwortet genauso prompt: „Augentäuscherei!“

Man denkt dabei an antike Anekdoten, die von Malern handeln, deren Bilder der Realität so täuschend ähnelten, dass Vögel nach den Trauben auf der Leinwand pickten. Kann das Michael Lassel passieren? Natürlich nicht. Denn Lassel ist, wenn man den Begriff ernst nimmt, alles, nur kein Trompe l’oeil-Maler. Die Szenerien, die er Bild für Bild entwirft, sind zwar bis ins kleinste Detail mit bewundernswerter Akkuratesse ausgeführt, aber niemand käme auf die Idee, sie für real zu halten. Alles, was Lassel zeigt, gibt es so in der wirklichen Welt nicht. Es ist, um einen vertrauten Begriff zu verwenden, surreal. Lassel ist ein Maler in der Tradition eines Dali oder Max Ernst, ohne dass man ihn mit den beiden verwechseln könnte. Galerist Karl Friedrich Krause nennt dafür einen Grund, der seinem Faible für das Handwerk entspricht: Dalis Bilder seien viel flüchtiger, mit weniger Sorgfalt gemalt. Das stimmt. Das Altmeisterliche, das Lassels Arbeiten auszeichnet, sucht man bei den Surrealisten vergebens. Ihre Bilder sind, verglichen mit denen Lassels, Skizzen, rasche Notate.

Verengten Weltbegriff aufsprengen

Das führt zum ersten Lassel-Paradox: dass er nämlich das, was immer nur für einen Augenblick aufblitzt – die Bildwelten des Traums und des Unbewussten – so malt, als sei es für die Ewigkeit. Alles Vergängliche wird bei ihm sofort mythisch. Die Faszination seiner Malerei besteht darin, dass er das, was jeder kennt, aber eben nur verwischt, flüchtig, als unerschütterliche Para-Realität vorführt. Insofern ist Michael Lassel dann vielleicht doch ein Trompe l’oeil-Maler: weil er die vertrauten Kategorien und Wirklichkeitsbereiche vertauscht; weil er das fantastisch ausstaffierte Innen zum festen Bestand des Außen macht. Lassels Bilder treffen den Geschmack derer, die sich auch in der Literatur und im Film von Fantasy-Welten verzaubern lassen. Das sind derzeit sehr viele.

Wenn man aber Lassel als Künstler ernst nimmt – und das geht nur, wenn man aufhört, ihn immerzu nur als Handwerker zu feiern –, dann muss man sich die Frage stellen, was seine Bilder von der Welt und von uns zeigen. Es ist die Frage, die schon den Surrealisten gestellt wurde. Die Antwort hieß damals, dass uns die Bilder dabei helfen, den verengten Rationalitäts- und Weltbegriff aufzusprengen. Die surrealistischen Künstler taten, mit anderen Worten, genau das, was auch die Psychoanalytiker, die Traumdeuter, die Mythenforscher, all die Sammler des Abseitigen und die Erkunder des „Heiligen im Alltagsleben“ unternahmen.

Ein Turm aus Schuhsohlen

Spürt man auch bei Lassel diesen subversiven Impuls? Eher nicht. Seine Arbeiten sind streng, in der Komposition, auch im Detail, aber gerade dadurch vor Überraschungen gefeit. Lassel will nicht die Realität aufsprengen oder erweitern, es reicht ihm, sie auf ganz eigene Weise zu beschreiben und zu interpretieren. Selbst dort, wo er vordergründig kritisch ist, wenn es etwa ums Geld geht, zeigt er nur das, was alle sagen.
Rätselhafter ist da schon sein Gemälde „Turm zu Babel“. Es besteht weitgehend aus aufeinandergeschichteten Schuhpaaren, von denen man nur die Sohlen sieht, aus alten Porträts, die an der Spitze auf den Schuhen ruhen, und aus unordentlich verstreuten Schriftrollen rund um den Turm. Da hört, was ein Kompliment für jedes Bild ist, das Fragen nicht so rasch auf. Was ist, wofür steht überhaupt Babel, wenn man sich mit der schlichten Auskunft: für die menschliche Hybris nicht so ohne weiteres zufrieden gibt? Warum zeigt sich die legendäre Sprachverwirrung ausgerechnet in der Differenz der Schuhsohlen? Und welche Funktion haben Schriftrollen, wenn doch die Kommunikation gerade zusammenbricht?

Das Bild als Ort des Transfers

An diesem Bild lässt sich zeigen, was Kunst im besten Fall leistet. Jedes Bild ist Archiv und Repertoire, verkörpert den historisch belehrten Möglichkeitssinn. Es ist der Ort des Transfers, bezeichnet also die Berührung und den „Tausch“ der Realitäten. Und es ist Sammelstelle, weil es nicht nur Wahrnehmungen verdichtet und koppelt, sondern jedes sinnliche Detail gefühlshaft auflädt. Kein anderes Genre der Malerei ist so metaphorisch, so sehr Sinn in Aktion wie der Surrealismus. Lassels Kunst, könnte man sagen, ist eine der Aufladung von Realität(en).

Die Ausstellung ist bis 18. Oktober in der Galerie Art Affair in Regensburg (Neue-Waag-Gasse) zu sehen.

Von Helmut Hein
Mittelbayerische
Artikel vom 29.09.2014